Allgemein,  Selbstwert

Die Geschichte mit dem Ring

Die Klienten und Klientinnen, die bisher in meine Praxis kamen, hatten alle die unterschiedlichsten Anliegen. Und auch wenn sie in ihrer Persönlichkeit, in ihrer Art mit Herausforderungen umzugehen, in ihren Stärken und Schwächen alle ganz individuell und einzigartig waren, so hatte ich bislang keinen einzigen/keine einzige bei mir, der oder die nicht schon mal das Gefühl hatte nicht „gut genug“ zu sein. So unterschiedlich sie waren, das alle hatten sie gemeinsam. Mangelndes Selbstwertgefühl ist das mit Abstand weitverbreitetste emotionale Problem, mit dem Menschen im Laufe ihres Lebens zu kämpfen haben. Wir alle wären gerne manchmal ein bisschen besser, schöner, lustiger, schlagfertiger, intelligenter, taffer- kurzum selbstbewusster. Was aber treibt Menschen dazu an, ihren Wert von bestimmten Maßstäben abhängig zu machen? Dazu gibt es eine, wie ich finde, schöne Geschichte, die ich euch zu Beginn an dieser Stelle gerne erzählen möchte:

Die Geschichte handelt von einem jungen Mädchen, das sehr wenig an sich selbst glauben konnte. Es definierte sich stets über die Meinung von anderen. Eines Tages erfuhr das Mädchen von einer alten weisen Frau, die ihm angeblich dabei helfen konnte, dieses Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Also machte es sich auf, in der Hoffnung Hilfe zu bekommen und erzählte ihr in voller Verzweiflung von seinem Leid: „Liebe alte Frau“, sagte das Mädchen, „ich bin zu dir gekommen, weil ich mich so oft so wertlos fühle. Alles was ich anstelle, mache ich falsch, ich bin einfach so ungeschickt. Was kann ich denn tun, damit die Leute eine höhere Meinung von mir haben? Bitte sag mir doch, wie kann ich ein erfolgreicher Mensch werden?“

Die alte Frau hielt kurz inne und meinte dann, es wäre schön, wenn das Mädchen ihr zuerst bei einem Problem helfen würde, welches sie zurzeit sehr beschäftigt. Danach würde sie sich ganz dem Anliegen des Mädchens widmen. Das Mädchen willigte ein und so erklärte ihm die Frau: „Ich habe hier einen Ring, den muss ich leider dringend verkaufen. Ich habe bei jemandem eine Schuld zu begleichen und dieser Ring soll dazu dienen. Nimm also bitte mein Pferd aus dem Stall und reite auf den Markt und verkaufe für mich diesen Ring. Aber gib acht, dass du ihn nicht für weniger als ein Goldstück verkaufst, denn das ist der Preis, den ich dafür benötige.“

Das Mädchen ritt los und bot den Ring auf dem Markt verschiedenen Händlern an. Manche schienen interessiert, aber keiner war bereit, den Preis von einem Goldstück zu bezahlen. Einige lachten sogar, als sie davon hörten. Andere wandten sich einfach wortlos und bitter ab. Ein Dritter erklärte dem jungen Mädchen höflich, dass ein Goldstück viel zu wertvoll sei, um es gegen diesen Ring einzutauschen. Er bot ihm ein Silberstück an, aber das Mädchen hatte ja die Anweisung, mit nicht weniger als einem Goldstück zurückzukehren.

Niedergeschlagen kam es wieder und fühlte sich in seinem Glauben, nichts wirklich schaffen zu können, bestätigt. Kleinlaut beichtete es der Frau: „Liebe alte Frau“, sagte es, „es tut mir so leid. Das, worum du mich gebeten hast, konnte ich nicht erfüllen. Vielleicht hätte ich zwei oder drei Silberlinge für den Ring bekommen können. Es ist mir jedoch nicht gelungen, jemanden über den wahren Wert des Ringes hinwegzutäuschen.“  „Was du sagst, ist sehr wichtig, mein kleines Mädchen“, antwortete die Frau mit einem Lächeln. „Wir müssen zuerst den wahren Wert des Rings in Erfahrung bringen, bevor wir eine gewisse Summe dafür verlangen können. Steig wieder auf das Pferd und reite noch einmal in die Stadt. Aber diesmal nicht zum Markt, sondern zum Goldschmied. Wer könnte den wahren Wert des Ringes besser einschätzen als er? Sag ihm, dass ich den Ring verkaufen möchte und frag ihn, wieviel er dir dafür geben möchte. Aber was immer er dir auch bietet: Du verkaufst ihn noch nicht. Kehr erst mit dem Ring zu mir zurück.“

Das Mädchen machte sich also erneut auf den Weg – zu dem Goldschmied. Dieser untersuchte den Ring im Schein einer Lampe, er betrachtete den Stein durch eine Lupe, er wog den Stein und polierte ihn anschließend noch einmal, bevor er ihn erneut eingehend betrachtete: „Mädchen!“, meinte er aufgeregt, „richte deiner Herrin aus, wenn sie den Ring gleich verkaufen will, kann ich ihr nicht mehr als 58 Goldstücke dafür geben. Mit etwas Geduld sind jedoch bis zu 70 Goldstücke dafür zu bekommen.“

Das Mädchen eilte aufgeregt zu der weisen Frau zurück und berichtete von dieser Antwort. Die alte Frau lächelte und bat es: „Setz dich und sieh, das ist auch die Antwort auf deine Frage: Du bist wie dieser Ring – ein Schmuckstück, kostbar und einzigartig. Und genau wie bei diesem Ring kann nicht jeder deinen wahren Wert erkennen. Nur ein Fachmann ist dazu in der Lage. Warum irrst du also durch dein Leben und erwartest, dass jeder x-Beliebige um deinen Wert weiß?“

Ich erzähle dir diese Geschichte, weil es in der Welt da draußen nicht viel anders zugeht. Die meisten Menschen laufen mit der großen Hoffnung durchs Leben, dass andere ihren Wert erkennen und erwarten, dass ihnen die Aufmerksamkeit zuteilwird, die sie sich wünschen. Egal ob in der virtuellen Welt oder im echten Leben, sie bestimmen ihren Selbstwert durch die Aufmerksamkeit von außen. Auch wenn Bestätigung anderer Menschen dem Selbstbewusstsein gut zu tun scheint, im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass man sich abhängig macht von der Meinung eines jeden x-Beliebigen, der in Wirklichkeit meist keine Ahnung hat, was einen ausmacht und besonders sein lässt und nur allzu schnell anhand von Oberflächlichkeiten urteilt.

Wenn du eine Sache nicht aus purer Leidenschaft tust oder der Sache und Erfüllung wegen, sondern vielmehr angetrieben wirst, um dadurch Bestätigung und Anerkennung zu bekommen, wirst du im Leben jedes Mal enttäuscht werden, wenn dir diese am Ende verwehrt wird. Sei dir bewusst: Es ist völlig egal, wie sehr du dich bemühst und investierst, irgendwo da draußen wird es jemanden geben, dem wird es nicht gefallen (aus welchem Grund auch immer). Es ist völlig egal, wie gut du in einer bestimmten Sache werden wirst und wie sehr du dich auch anstrengst, es wird immer jemanden geben, der noch ein Stück besser ist. Bei solchen Vergleichen kann unser Selbstwertgefühl also nur verlieren, es wird immer geringer und minderwertiger statt größer und gefestigter.

Ich erzähle dir diese Geschichte, weil wir alle lernen müssen, zuerst selbst unseren Wert zu erkennen, bevor wir von anderen erwarten, dass sie es tun. Wie soll es denn sonst anders herum funktionieren? Wenn wir uns selbst nicht wertschätzen, nicht lieben können, nicht achten und dementsprechend mit uns umgehen, wie können wir es dann von anderen erwarten?

Nur wenn wir um unseren eigenen Wert
Bescheid wissen,
können ihn letztendlich auch die anderen
erkennen und schätzen.

In der Psychologie gibt es ein Gesetz, welches auch das Ursache- Wirkungs- Prinzip genannt wird. Es besagt, dass es für jede Wirkung eine bestimmte Ursache gibt: Welchen Wert du dir selbst zuschreibst, wie wertvoll du dich selbst erachtest, wie sehr du dich selbst annehmen kannst (Ursache), so wertschätzend wirst du mit dir selbst umgehen und so zufrieden wirst du mit dir selbst sein. Und je zufriedener und glücklicher du mit dir selbst bist, umso mehr strahlst du das auch nach außen hin aus, traust dir Dinge zu und hast deine ganz eigene authentische Form der Attraktivität auf andere Leute (Wirkung). Jeder Gedanke, jedes Gefühl und jedes Verhalten erzeugt demnach einen spezifischen Effekt, der wiederum einen ganz bestimmten Einfluss auf dein Leben nimmt und dazu führt, dass dein Leben eine bestimmte Richtung einschlägt. Wenn dir also die Effekte, die du selbst kreiert hast, nicht gefallen, dann musst du die Ursachen dahinter ändern.

Wie wertvoll du dich erachtest,
so wertschätzend wirst du auch mit dir umgehen
und so zufrieden wirst du mit dir sein.

Und je zufriedener du mit dir selber bist,
umso mehr strahlst du dies
nach außen aus.

Mit dieser Geschichte möchte ich daran erinnern, dass Selbstbewusstsein nichts ist, was von außen kommt, sondern etwas, was du ganz bewusst in dir selbst erwecken kannst, indem du dir bestimmte Fragen stellst und dir immer bewusster wirst wie du eigentlich sein möchtest und wie du dein Leben gestalten willst.

Selbstwertprobleme sind die mit Abstand größte Gruppe emotionaler Probleme, die Menschen im Laufe ihres Lebens zu schaffen machen. Was aber bringt uns Menschen dazu, unseren Wert von bestimmten Maßstäben abhängig zu machen und dann so pauschal danach zu urteilen? Dazu gibt es mehr im nächsten Blog. Ausserdem möchte ich näher darauf eingehen, was Selbstbewusstsein nun eigentlich genau bedeutet und welche Fragen du dir selbst stellen kannst, um selbstbewusster zu werden.

Bis dahin Salut und alles Liebe,

 

deine Marlene