Bulimie (Bulimia nervosa)

Überblick

Die Bulimie, auch Bulimia nervosa oder Ess-Brech-Sucht genannt, gehört zur Gruppe der Essstörungen und ist gekennzeichnet durch:

Definition und Symptomatik

Die Bulimia nervosa ist eine Erkrankung zwischen zwei Extremen, Betroffene schwanken zwischen Phasen strenger Kontrolle und völligem Kontrollverlust: In der Öffentlichkeit wirken Bulimie-Kranke oft sehr kontrolliert, sie legen Wert auf eine gesunde Ernährung, achten auf ihr Gewicht, wählen Lebensmittel und Speisen mit Bedacht, verbieten sich ungesunde „Dickmacher“. Zwischen diesen kontrollierten Phasen erleben die Betroffenen jedoch immer wieder Momente, in denen ihnen die Kontrolle über ihr Essverhalten entgleitet. In kurzer Zeit nehmen sie riesige Mengen Nahrung zu sich, oft besonders hochkalorische, „ungesunde“ oder „verbotene“ Lebensmittel. Es scheint ihnen zu diesem Zeitpunkt unmöglich, mit dem Essen aufzuhören. Solche Essanfälle treten unterschiedlich häufig auf – manchmal wöchentlich, täglich, oder sogar mehrfach täglich. Typischerweise finden sie heimlich im Verborgenen statt.

Weil das Völlegefühl oft unerträglich oder die Angst zuzunehmen zu groß ist, werden im Anschluss Gegenmaßnahmen ergriffen: Sehr viele Betroffene erbrechen, andere wiederum fasten streng oder missbrauchen Abführmittel und Diätpillen. Dies bringt häufig kurzfristige Erleichterung, ein Gefühl von Befreiung und „Ruhe im Kopf“. Bei nur kurzzeitiger „Wirkung“ tritt die Symptomatik erneut auf, ein Teufelskreis beginnt.

Bulimie ist eine Erkrankung, bei der Betroffene immer wieder erleben ausgeliefert zu sein. Der Kontrollverlust, der während der Essattacken stattfindet, löst immens große Schamgefühle, selbstabwertende Gedanken und eine gedrückte Stimmung aus.  Hinzu kommt das Gefühl versagt zu haben und die Angst, diese Anfälle niemals unter Kontrolle zu bekommen. Daraufhin folgen Phasen von absoluter Disziplin, in denen vorgeschriebene Pläne penibel eingehalten werden, um wieder Kontrolle über Körper und Psyche zu bekommen. Dies geht so lange gut, bis der nächste Anfall die Unkontrollierbarkeit der Sucht wieder deutlich macht. Je öfter dies passiert, umso mehr steigt die Hoffnungslosigkeit.

Aufgrund der starken psychischen Belastung sowie der ständigen zwanghaften Beschäftigung mit dem Essen kann das Leben oftmals nur schwer bewältigt werden. Die Leistung im Studium, der Lehre, im Beruf oder bei der Arbeitssuche fallen ab. Dieser Leistungsrückgang führt jedoch noch tiefer in die Selbstzweifel.

Die Betroffenen sind sich ihrer Problematik bewusst; die Suchtprozesse und Gier nach Nahrungsmitteln werden als quälend empfunden und dennoch fällt es unheimlich schwer diesen Kreislauf zu durchbrechen.

Komorbidität

Die Erkrankung geht manchmal mit anderen psychischen Störungen einher, wie Depressionen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline) bzw. Störungen der Impulskontrolle. Hierbei handelt es sich um ein zwanghaftes und nicht kontrollierbares Verhalten, das unter Anspannung an den Tag gelegt wird. Die jeweilige, impulsiv ausgeführte Handlung führt zu einem kurzzeitigen Nachlassen der Anspannung. Betroffene geben unkontrolliert Geld aus, zeigen selbstschädigendes Verhalten (Zufügen von Verletzungen etc.) oder begehen Ladendiebstähle. Nicht selten führt der enorme Nahrungsmittelverbrauch mit der Zeit auch zu großen finanziellen Problemen mit erheblichen sozialen Konsequenzen, wie Verschuldung, Stehlen von Nahrungsmitteln oder Geld.

Bulimie - eine Suchterkrankung?

Obwohl das Essen/Erbrechen und Hungern an sich kein Suchtstoff ist, wird es ähnlich wie eine Droge eingesetzt, weshalb man bei dieser Erkrankung einige Parallelen zur Suchterkrankung ziehen kann.

Das erste Merkmal der Sucht ist der Kontrollverlust, der bei der Bulimie in der Unfähigkeit besteht, mit dem zwanghaften Überessen und Entleeren (Erbrechen, Abführmittel, Fasten) aufzuhören. Eine willentliche Kontrolle ist nicht mehr möglich, alle Versuche (Versprechen, Essenspläne, Vorsätze etc.) scheitern und subjektiv wird Essen und Erbrechen als Zwang erlebt.

Die zweite Parallele ist das Erzielen eines besseren inneren Gemütszustands durch Essen, Erbrechen oder Fasten. Es ermöglicht negative Gefühle wie Anspannung oder Traurigkeit zu reduzieren und durch kurzzeitige positive Gefühle zu ersetzen. Somit bekommt das Essen neue Funktionen zugeschrieben, es wird zur Ersatzbefriedigung, zum Gefühlsdämpfer oder Lebensbewältiger. Dabei verliert es seine ursprüngliche Funktion als Lebensmittel. Essen und Erbrechen werden als „Problemlöser“ in Situationen eingesetzt, die für die Betroffenen scheinbar unlösbar sind.

Sie helfen vorübergehend, weil sie Spannungen abbauen, eine kurze Zufriedenheit hervorrufen und die Wirklichkeit für einige Zeit ausblenden. Doch ähnlich wie nach jedem Rausch der ernüchternde Kater folgt, so leidet auch die Bulimikerin/der Bulimiker hinterher meist mehr als vorher. Körperliche Symptome folgen zusammen mit dem Gefühl von Wertlosigkeit, Traurigkeit und dem Glauben, permanent zu versagen.

Die Bulimie unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Kriterien als Suchterkrankung von anderen Süchten vor allem dadurch, dass bei ihr in der Regel keine körperliche Abhängigkeit vorliegt, der Abstinenzbegriff ein anderer ist und Rückfälle eine andere Bedeutung haben als bei stoffgebundenen Süchten. Die körperliche Abhängigkeit von einem Stoff hat zur Folge, dass ein einziger Rückfall die ganze Suchtkrankheit erneut in Gang setzen kann. Bei der Bulimie hingegen sind Rückfälle in der Regel Begleiter auf dem Weg zur Genesung und dienen dem allmählichen Aufbau eines symptomfreien Essverhaltens. Rückfälle sind häufig auch deshalb nicht auszuschließen, weil die Bulimkerin/der Bulimiker täglich mit ihrem/seinem Suchtmittel in Kontakt kommt und lernen muss, damit umzugehen. Hier ist Abstinenz (im Sinne von Weglassen des Suchtmittels) nicht möglich, da Nahrung notwendig ist, um zu leben.

Häufigkeit von Bulimie

Bulimie betrifft vor allem junge Frauen und Mädchen zwischen dem 17. und 30. Lebensjahr (90 bis 95 %). Etwa 1 % aller Mädchen und Frauen, die dem Alter der Risikogruppe entsprechen, sind betroffen; bei Männern ist die Erkrankung im Zunehmen. Nicht selten ging der Erkrankung eine magersüchtige Episode voraus. Ein Großteil der Ess-Brechsüchtigen weist ein normales bis leicht erhöhtes Körpergewicht auf, ein kleinerer Teil hält ein künstlich niedriges Gewicht. Hier können Übergänge zur Magersucht bestehen und fließend sein. Es kommt auch vor, dass Betroffene zwischen Magersucht und Bulimie „hin und her wechseln“ (Zeiten des Hungerns folgen Episoden der Essanfälle und des Erbrechens).

Ursachen von Bulimie

Wie bei den meisten psychischen Erkrankungen gibt es keine eindeutige Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Krankheit. Bulimie kann unterschiedliche Entstehungsgründe haben, es gibt eine Vielzahl an auslösenden Faktoren, die im Zusammenspiel die Entwicklung der Essstörung begünstigen. Individuelle Persönlichkeit und Veranlagung spielen dabei ebenso eine Rolle wie Erlebnisse und Erfahrungen, Erziehung und Umwelt. 

Eine bedeutende Rolle spielt wie bei allen Essstörungen ein überzogenes gesellschaftliches Schlankheitsbild, das vermittelt, dünn sein wäre gleichbedeutend mit erfolgreich und glücklich. Unrealistische Schönheitsideale können so zu einer gestörten Körperwahrnehmung führen und zur Entstehung der Krankheit beitragen.

Die Selbstwertproblematik vieler Patienten/innen findet häufig Ausdruck in einer ausgeprägten Selbstunsicherheit, die sich nicht nur auf die eigene Rolle im gesellschaftlichen und familiären Umfeld bezieht, sondern allgemein auf die Frage nach dem „Wert“ oder der „Bedeutung“ der eigenen Person. Letztendlich mündet diese Unsicherheit in dem Gefühl „eigentlich nichts wert“ zu sein und schränkt die psychosozialen Möglichkeiten ein. Gleichzeitig meinen Betroffene eine besonders hohe Erwartungshaltung ihrer Umgebung zu spüren, sie setzen sich selbst unter großen Leistungsdruck, sind ehrgeizig und perfektionistisch, was am Ende nicht selten in einer Überforderung mündet.

Neben dem instabilen Verhältnis zum eigenen Körper und der Angst vor dem Dicksein sind  familiäre Konflikte, erlebte Traumata oder ein bestimmter Persönlichkeitstyp (Ängstlichkeit, Perfektionismus, wenig Selbstvertrauen, Selbsthass etc.) in der Therapie der Bulimie unbedingt zu berücksichtigen.

Folgeerscheinungen einer Bulimie

Als Folge einer Erkrankung an Bulimie ist auf der körperlichen Ebene häufig eine Vergrößerung der Speicheldrüsen erkennbar, die durch das wiederholte Würgen und Erbrechen hervorgerufen wird. Durch den Kontakt mit dem stark säurehaltigen Mageninhalt können sich auch Schäden am Zahnschmelz, ausgeprägte Karies, sowie Entzündungen der Speiseröhre und Einrisse der Speiseröhrenwand entwickeln. Die Refluxkrankheit tritt als Spätfolge auf, wenn der Schließmuskel des Magens durch häufiges Erbrechen geschädigt worden ist.

Das ständige Erbrechen der Nahrungsmenge aber auch die Einnahme von harntreibenden und abführenden Mitteln führt zum Ungleichgewicht der im Blut gelösten Stoffe, der Körper verliert wichtige Elektrolyte. Diesen kommen im Körper viele wichtige Aufgaben zu, zum Beispiel die sehr aggressive Magensäure zu neutralisieren. Wenn sich die aggressive Magensäure und die schützenden Faktoren der Magenschleimhaut (zum Beispiel Schleim und Säure-neutralisierende Elektrolyte) im Ungleichgewicht befinden, erhöht sich das Risiko einer Magenschleimhautentzündung (Gastritis). Hält die Entzündung längere Zeit an oder sind die schützenden Faktoren zu schwach, wird die Schleimhaut geschädigt und ein Magengeschwür kann entstehen. Durch die erhebliche Nahrungszufuhr besteht außerdem die Gefahr, dass sich der Magen überdehnen und Risse in der Magenwand bekommen kann.

Fehlende Elektrolyte schwächen aber auch die Muskeln – davon ist ebenso der Herzmuskel betroffen. Deshalb kann ein sehr starker Mangel an Kalium lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen (Kammerflimmern) auslösen.

Das Risiko für Knochenschwund (Osteoporose) infolge von Störungen der Östrogenbildung, Kalzium- und Vitamin-D-Versorgung steigt besonders bei Magersucht, kann aber je nach Essstörungstypus auch Patienten/innen mit Bulimie betreffen. Der Östrogenmangel kann außerdem verursachen, dass die Regelblutung ausbleibt.

Genauso schädigend wie zu Erbrechen ist auch der Missbrauch von Medikamenten. Die oft überdosierte und regelmäßige Einnahme von Abführ- oder harntreibenden Mitteln kann als Spätfolge die Funktion von Nieren und Leber dauerhaft beeinträchtigen. Auch der Darm kann Schaden nehmen. Die Darmbewegungen werden träge und zu schwach, um den Stuhl aus dem Darm zu befördern. Eine chronische Entzündung des Darms ist eine mögliche Folge.

Behandlungsmöglichkeiten

Viele Menschen mit Essstörungen haben die Hoffnung ihre Essprobleme allein in den Griff zu bekommen. Allerdings muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass hinter einem Essproblem meist seelische Ursachen stehen, die für die eigentliche Symptomatik verantwortlich sind, welche therapeutisch behandelt werden müssen. Falls dies nicht geschieht, wird die Erkrankung nie an der Wurzel behandelt und die Gefahr ist groß, dass die Essstörung chronisch wird oder man selbst nach symptomfreien Zeiten in Krisen immer wieder rückfällig wird.

Nur die Betroffenen selbst können entscheiden, ob sie die Essstörung aufgeben möchten oder nicht. Diese Entscheidung ist die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie.

Bausteine einer Therapie

Je nach Schwere der Krankheit und Begleitumständen kann eine Behandlung in einer spezialisierten Klinik (stationär) oder ambulant in einer Praxis erfolgen. Oft wird auch die Kombination gewählt: erst stationär, dann ambulant.

Welche Behandlung in Frage kommt, hängt von der individuellen Symptomatik und Situation ab. Eine Einschätzung erfolgt idealerweise durch eine ärztliche als auch klinisch-psychologische Diagnostik und in einem ausführlichen Beratungsgespräch geklärt.

Da Essstörungen viele verschiedene Ursachen haben und sich auf verschiedene Lebensbereiche auswirken, ist fast immer eine multiprofessionelle Begleitung durch verschiedene Berufsgruppen notwendig. Diese Aufteilung findet man bei den meisten stationären Therapien und ist auch bei einer ambulanten Betreuung sinnvoll.

Ärztliche Betreuung

Bei Essstörungen handelt es sich um Erkrankungen mit körperlichen Folgen, was eine ärztliche Begleitung durch einen Internisten, Psychiater oder Hausarzt notwendig macht. Ziel ist es, die möglichen medizinischen Komplikationen einer Essstörung zu beobachten und gegebenenfalls zu behandeln. Konkret bedeutet das unter anderem die regelmäßige Gewichtskontrolle, Überprüfung der Laborwerte, der Herz- und Nierenfunktion, etc. 

Ernährungsberatung

Ein weiteres wichtiges Ziel ist es, Mangelerscheinungen auszugleichen und mögliche Folgeschäden zu verhindern. Eine Ernährungsberatung, Essenspläne und Essensprotokolle sollen Betroffene dabei unterstützen, wieder zu einem normalen Essverhalten zurückzufinden. Sie üben unter Anleitung, genauer auf die Signale ihres Körpers zu achten.

Psychotherapie

Studien haben gezeigt, dass die kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie familientherapeutische Interventionen die beste Wirksamkeit bei der Behandlung der psychischen Aspekte von Magersucht, Bulimie und Binge Eating zeigen.

Kognitive Verhaltenstherapie

Die Ziele der Therapie sind die schrittweise Bearbeitung der Essstörungssymptome (z.B. Erbrechen, Hungern, Essanfälle), deren Auslöser und Ursachen und damit in Zusammenhang stehende weitere psychische Problematiken (z.B. Selbstwertprobleme, soziale Isolation). Dysfunktionale, mit der Essstörung verbundene Einstellungen sollen reflektiert und korrigiert und durch alternative, selbstwertsteigernde Einstellungen ersetzt werden. Mit einer kritischen Analyse der Vor- und Nachteile der Essstörungen gelingt es häufig aufzuzeigen, welche persönlichen Defizite und Probleme mit der Essstörung kompensiert wurden. Ziel ist es, dass Betroffene lernen, die durch die Essstörung erlangten Vorteile anders, auf eine symptomfreie und gesunde Art und Weise zu erreichen, um so das gesamte psychische Gleichgewicht wiederherstellen zu können.

Betroffene reagieren gewöhnlich auf Rückfälle mit Selbstanklagen. Ein Rückfall bedeutet für sie häufig „das Ende“ und ist mit Selbstzweifeln, Angst und Niedergeschlagenheit verbunden. Sieht man Rückfälle jedoch als Ausdruck eines Mangelzustandes, eines unbefriedigten Bedürfnisses oder ungelösten Problems, als einen Hunger auf einer anderen Ebene, ist es möglich, konstruktive Lösungswege zu suchen und den eigentlichen Hunger zu stillen. Mit der Identifizierung des zugrundeliegenden Konflikts wird ein Ausstieg aus dem Rückfallkreislauf möglich. Ein Rückfall ist nicht etwas Passives, das über die Betreffende „hereinbricht“, sondern eine bewusste Entscheidung in einer Problemsituation. Der Rückfall zeigt an, dass Konflikte und Probleme mit Essen beantwortet wurden, statt gelöst zu werden.

Gerade wenn die Essstörung bereits länger besteht, kann dies Auswirkungen auf das gesamte Leben haben. In diesem Fall hilft eine sozialpädagogische Begleitung dabei, z.B. soziale Isolation zu überwinden, eine (Re-)Integration in Schule oder Beruf zu erreichen oder Schulden abzubauen. Bei der Therapie von essgestörten Jugendlichen ist die Einbeziehung der Familie besonders wichtig, denn sie kann als wirksame Ressource für Überwindung der Erkrankung dienen.

Quellenangaben und Literaturtipps:

Herpertz, S., Zwaan, M. & Zipfel, S. (2015). Handbuch Essstörungen und Adipositas. 2.Auflage. Berlin: Springer.

Jacobi, C., Paul, T. & Thiel, A. (2004). Essstörungen. Fortschritte der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Legenbauer, T. & Vocks, S. (2006). Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.

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